zur lage in der Ukraine

REDE IM EUROPARAT, STRASSBURG, DEN 27.4.2022

Sehr geehrte Damen und Herren,

in der Resolution gegen russischen Angriff und Kriegsführung in der Ukraine ist letztlich die Forderung eines totalen Wirtschaftsembargos gegen Russland, nach unbeschränkte Waffenlieferungen an die Ukraine und letztlich unbegrenzte humanitäre Unterstützung der Ukraine während und nach den Kriegshandlungen enthalten. Gefordert ist auch die Unterstützung all der Kriegsflüchtlinge aufnehmenden Nachbarstaaten. Ebenso die Unterstützung einer demokratieorientierten Zivilgesellschaft der Russischen Föderation und eines wahrheitsorientierten, unabhängigen Medienjournalismus jenseits aller Regierungspropaganda; und geschützt werden müssen nicht nur die Kriegsflüchtlinge in der Ukraine und außerhalb, sondern auch die Menschenrechte der kulturell, ethnisch oder staatsbürgerrechtlichen Russen im In- und Ausland.

Gestatten Sie eine Bemerkung dazu vorab: Eine Zivilgesellschaft und Medienwelt, die genötigt wird nach der jeweiligen Regierungspfeife des In- oder Auslands zu tanzen, wäre ein Diener von anderer Leute Interessen. Russische, ukrainische, deutsche und fast alle anderen Staats-Bürger haben allen Grund auf ihre jeweiligen Regierungen, ich sage mal „stinksauer“ zu sein. Der Staat ist für den Menschen da, und nicht umgekehrt. Das Schindluder, was staatliche Autoritäten und Lobbyinteressen mit unserer Gesundheit, Arbeitskraft und Sparsamkeit treiben ist unerhört. Was sich unter dem „Corona“-Regime weltweit abspielte (und noch immer abspielt) ist doch wirklich unerhört.

Doch zurück zum Krieg: Ein gut Teil dessen, was hier nicht unbegründet von oder gegen Russland gefordert wird, sollte natürlich auch von der anderen Konfliktpartei gefordert werden. Etwa die strikte Einhaltung des Kriegsvölkerrechts und humane Behandlung von kriegsgefangenen Kombattanten und Zivilisten. Keine blutige Hand bleibt sauber im Kriege, fahrlässige oder absichtliche Tötung, Mißhandlung oder auch nur Gefährdung von eindeutigen Zivilisten müssen straf- und/oder militärgerichtlich aufgearbeitet werden. Berichte von beiden Seiten müssen über Manipulations- und  Unvollständigkeitsverdacht erhaben sein, sie müssen investigativ hinreichend abgeklärt werden. Große und kleine Lügen sowie Gräuel- und Sensationsberichte können zu entsprechenden Fehlentscheidungen aller Art führen.

Der Europarat (wie übrigens auch die EU) ist keine Ersatz-NATO, und beide sollten es auch nicht werden! Der Rat ist aber sozusagen historisch die Mutter der gesamteuropäischen Zusammenarbeit. Eine wichtige und relevante Ergänzung und regionalisierte Einheit in Vielfalt. Pragmatisch sollte er aber bitte auch noch sein. Pragmatismus und Glaubwürdigkeit durch konsequentes Handeln in Sachen Politik und Menschenrechte also, keine einseitig-vorzeitige Parteinahme bei unklaren juristischen, wirtschaftlichen und kriegerischen Sachverhalten. Vor diesem Hintergrund wären gegen alle Forderungen an das gegenwärtige und zukünftige Russland, auch auf entsprechende Forderungen an die Adresse der Ukraine zu richten. Auch mit Blick auf andere Konflikte zwischen Mitglieds- wie auch Nicht-Mitgliedsstaaten des Europarates.

Hier nun mein Zusatz-Vorschlag, meine Alternativ-Forderung: Setzen wir doch das „Minsker Abkommen“ rückwirkend um — und fordern wir auch von der NATO für Russland Garantien. Für Sewastopol und die Krim, wo natürlich OSZE/UNO-mandatiert nachgewählt werden sollte, auch was „Donbas/Luhansk/…“ und die ganze ehemalige/gegenwärtige Ukraine angeht. Inwieweit können wir denn auf eine echte Friedensverhandlungswilligkeit beider Seiten vertrauen, soweit wir davon überhaupt je seriös, aktuell und verbindlich irgendwelche Kenntnis bekommen? Kurz- und mittelfristig ist auch ein Gesamtpaket anzustossen, auf neudeutsch: ein Package-Deal! Eine weitgehende De-Militarisierung Mitteleuropas unter Einschluß der baltischen Staaten inklusive Kaliningrad/Königsberg bis hinunter nach Moldau/Transnistrien. Ich sehe hier perfekte Möglichkeiten und die Notwendigkeit eines Mehrfach-Junktims, wo neben Putin-Russland und US-NATO eben die Mitteleuropäer eine Hauptrolle spielen. Neben allem recht zwanghaft anmutenden Ausbau alter Strukturen, müssen hier alle Beteiligten vielleicht auch mal einen Rückbau ins Auge fassen. Man hatte über 20 Jahre Zeit auf Forderungen, Anregungen, Logik und Psychologie einer russischen Führungsfigur einzugehen — und völlig losgelöst davon einfach auf realpolitische Logiken zu setzen. Außenpolitisch hat man „westlicherseits“ jahrzehntelang aber eher alles getan, um die innenpolitische Regression der russischen Gesellschaft zu forcieren. Das aufgeklärte Bürgertum aller Staaten hat mehr gemeinsame Interessen als deren Führungsstrukturen wahrhaben, und viele in- oder ausländische Interessengruppen ihnen zubilligen wollen.

Also: Bahn frei für neues Denken und Handeln!