Die Verdammten Europas

Einleitung und Vorwort

Am Ende des EU-Krisen- oder gar Schicksalsjahres 2005 wußte gerade auch ein belgischer Berufspolitiker, Jan Verhofstadt, in seinem Plädoyer für die „Vereinigten Staaten von Europa“, gewisse unliebsame historisch-aktuelle Inspirationsquellen als solche sozusagen weiterhin tunlichst unter Verschluß zu halten. Und auch ich, in diesem, dem ersten Teil eines längeren Gesamttextes, werde hier zunächst auch nicht einen der (Vor-) Väter des „modernen Europa“ beim Namen nennen – aus dramaturgischen wie pädagogischen Gründen! Verhofstadt kombinierte den nicht von ihm stammenden Ansatz auch mit der Möglichkeit eines ohnehin im Vorfeld schon von gewissen anderen heutigen Zeitgenossen angedachten „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ beziehungsweise einem stärker integrierten politischen „Kerneuropa“ und einer loseren „Organisation europäischer Staaten“ drum herum (vgl. „FAZ“ vom 2.12.2005).

Übrigens lief und läuft auch Herfried Münklers beachtliche politikwissenschaftliche Analyse, Behauptung oder Deutung von vergangenen, gegenwärtigen, künftigen „Imperien“ (2005) in eine vergleichbare Richtung. Diese enthält aber eine meines Erachtens bislang und auf Sicht nicht wirklich wahrscheinliche Vision, nämlich die eines europäischen Reigens mit einem erstmals wieder wirklich gleichberechtigten oder gar – hier und da – wirklich führenden Deutschland in einer Art „Achse“ Paris-London-Berlin (ja, vorstellbar für die meisten natürlich nur in dieser sozusagen ewiglichen Reihenfolge). Diese würde obendrein auch noch als „Gegengewicht“ zu den USA zu installieren sein, so Münkler. Genau jene gerade auch von weit weniger qualifizierten „US-Gegenmachtbedarfs“-Claqueuren als Münkler – und von wohl so manchen, insbesondere deutschen Politikern – vertretene eingängige „Europa“-Variante, erweist sich jedoch faktisch fast tagtäglich aufs neue als eine typisch deutsche Fehleinschätzung der Konstellationen und Grundbedingungen europäischer wie weltweiter Sachverhalte, Interessen- und Gemengelagen. Auch manch wackerer und seriöser Wissenschaftler ist hierbei offenbar vom gleichen (Wunsch-) Denken geleitet wie fast sämtliche bisherigen west- oder sogar „gesamtdeutschen“ Nachkriegs-Politgenerationen und Wählerschaften. Jene wollen oder können ganz offenbar in keiner Weise die im folgenden von mir – hoffentlich eingängig genug – skizzierten Fakten und Hintergründe zur Kenntnis nehmen und entsprechende, reale und eben anderweitige Konsequenzen folgen lassen. Das nach zwei (heißen) Weltkriegen „im Westen angekommene“ (Heinrich August Winkler), sozusagen typisch neu-deutsch-romantische, deshalb vielleicht auch eher reichlich „(euro-) provinzielle“ (Karl Heinz Bohrer) und vielfach eben recht ominös-diffuse, paneuropäisch-supranationale EU- und/oder UNO-Wunschdenken der Deutschen, wird in fast allen Teilen des europäischen „Westens“ weit weniger bemüht oder goutiert als hierzulande. Zumindest nicht in den großen oder kleinen Staaten, die eine fungible, meist sehr ungebrochene Elite aufweisen. Daraus gilt es, wie gesagt, gegenwärtig wie künftig endlich einmal angemessene Konsequenzen zu ziehen. Dies ganz im Interesse eines bitteschön zu revitalisierenden „Deutschland“ inmitten eines wirklich zukunftsträchtigen „Europa“ der Reziprozität und Leistungsgerechtigkeit!

Ein besonderes Ärgernis ist dabei, wie gerade deutscherseits mit emotionalisierter Emphase immer wieder die Behauptung lanciert wurde/wird, daß die „EWG/EG/EU“ als großer „Friedensgarant“ zu feiern sei. Beim „Jubiläumsjahr“ 2007 blieb sozusagen kein offizielles Auge trocken, um gerade den verunsicherten Deutschen eine durchemotionalisierte, latente Zustimmung zu allem und jedem abzuluchsen. Ganz offenbar reichen die rationalen oder ökonomischen Argumente dazu nicht aus. Hierzu nun eine wenig Nachhilfe: Nicht die EU, sondern vor allem die transatlantische NATO „garantierte“ – wenn man unbedingt so will – den „europäischen Frieden“ nach 1945. Vielleicht auch nur die roten Telefone des jeweiligen US-Präsidenten sowie des jeweiligen KPDSU-Parteisekretärs und Staatschefs. Und nicht bspw. deutscher, französischer oder britischer Friedenswille, sondern fast allein die nahezu absolute deutsche sowie die relative französische und britische militärische Impotenz oder Bedeutungslosigkeit machten (letztlich allein) die USA und Rußland zu den wahren Entscheidern über Krieg und Frieden – gerade auch in Europa.

Ein mehr mitteleuropäisches Europa – und dann schauen wir mal weiter!

Beziehungsweise: Die Verdammten „Europas“

 

Deutsche haben den größten „gefühlten“ Europäisierungsbedarf von allen großen europäischen Ländern. Gerade sie meinen, sich nur so wieder irgendwie aus der Mördergrube der eigenen (auf 12 Jahre reduzierbaren?) Geschichte erheben zu können. Die Normalisierung des „internationalen Ansehens“ Deutschlands wird nahezu ausschließlich auf dem für die meisten anderen Nationen eben nicht normalen, nicht attraktiven, nicht opportunen Weg einer weitgehenden politisch-kulturellen Selbstaufgabe verfolgt. Dies ist eben etwas durch und durch Unnormales für (andere) Nationen. Auch die fast lupenreine Negativ-Definition des nationalen Selbst als Metapher für etwas was man dann angeblich bitte nicht mehr ist oder sein möchte, ist wenig überzeugend. Mit durchaus geringerem Schuldkontostand für die besagte 12-Jahres-„Epoche“ gibt es aber auch gewisse andere Länder, die zumindest scheinbar oder teilweise sich für diese deutsche Selbstauflösungsstrategie erwärmen könn(t)en – und dies ob ihrer relativ geringen wirtschaftlichen Ressourcen und Potentiale auch einfach müssen. Man denke da folgerichtig an (sehr) viele alte und neue, west-, nord-, süd- und mitteleuropäische „EU-Staaten“. Paradoxerweise wird man dort aber im Regelfalle weit, weit mehr als hierzulande auf eine teils authentische, teils eher „nationalpädagiogisch“ und „geschichtspolitisch“ sehr, sehr positiv zurechtstilisierte „Nationalkultur“ sowie „nationale Interessen“ stoßen. Selbst wenn diese inhaltlich sehr zweifelhaft sein können, so scheinen sie mit ihrer „nationalen“ Interessenverfolgung doch im großen und ganzen weit pragmatischer, vitaler, erfolgreicher zu sein als das deutsche Treiben oder Sich-treiben-und-sich-gehen-lassen seit 1918/19 beziehungsweise 1933 ff. oder 1949 ff. oder 1989/90.

Etwas ganz anderes als bei den Deutschen ist auch gerade für die alten westlichen wie östlichen „Flügelmächte“ zu konstatieren. Denn die bisherige welt- und damit auch europapolitische Rolle gerade von Großbritannien (beziehungsweise England) und Frankreich durch „europäischen Integration“ nicht etwa deutlich bereichert, sondern eben deutlich geschmälert. Daß diese „Integration“ als nachkriegsdeutsche Heilslehre und politisch-kultureller Identitätsersatz herhalten muß, mag vielleicht bis in die 1960er Jahre hinein plausibel erscheinen, war doch das Ganze ohnehin vor allem aus der quasi alternativlosen und nur extern gewährbaren deutschen Teilsouveränität nach 1945 (oder doch schon der nach 1918?) erwachsen. All dies wissen und spüren die im Gegensatz zu „Deutschland“ durchaus noch vorhandenen („siegreichen“) Eliten dieser Länder beziehungsweise deren nationale Erben ganz, ganz genau. Das wissen und spüren selbst – und dies vielleicht sogar ganz besonders – die Mittel- und Unterschichten dieser Länder. Die sogenannte „EU-Verfassung“ war zwar durch die mit den in 2005 erfolgten Volks-Referenden zunächst nur in Frankreich und den Niederlanden („Holland“) öffentlich steckengeblieben. Sie blockiert(e) aber dann zumindest psychologisch offenbar den gesamten Ratifizierungsprozeß und „die Denke“ in diese Richtung. Zu großer Hoffnung auf einen qualitativen Gesinnungswandel, vor allem in Frankreich, besteht herzlich wenig Anlaß. Und „die Briten“ mußten sich so – sehr elegant, nicht wahr? – eben nicht einmal mehr als die entschiedensten oder gar einzigen integrationspolitischen Spielverderber outen (lassen).

Die mit einer derartigen „EU-Verfassung“ gegebenen Souveränitäts- beziehungsweise Statusverluste, gehen gerade die besagten, westlich von Deutschland besonders tonangebenden, mindestens seit dem 19. Jahrhundert meist sehr ungebrochenen alten „westlichen“ Eliten besonders hart an. Und eben auch die Mehrheit der mit diesen Eliten psychologisch-kulturell verbundenen „Normalbevölkerungen“. Was bringt einem auch derlei EU-Gleichstellung mit gewissen Leuten? Was soll denn die faktische nationale Unterordnung, wenn man auch so alles hat worauf es einem ankommt: eine Bestätigung der eigenen (relativen) Dominanz, ökonomische Vorteile sowie die Fortschreibung und Bestätigung zahlreicher Urteile, Vorurteile und Opportunitäten einer „Sieger“-Geschichte. Vor allem aber bleibt es bei der noch immer irgendwie fortgesetzten Einhegung, wenn nicht gar „neuen“ Bevormundung und Ausnutzung der „neuen Deutschen“. Man könnte sagen: ein Hauch Versailles ist stets dabei! Und all das war ja – so oder so – schon im europäischen Gesamtpaket der 1950er Jahren voll und ganz enthalten (Montanunion, Euratom, EWG usw.). Bei Lichte betrachtet war diese nicht wirklich nur selbst gewählte, vielfach zweifelhafte „Sonderstellung“ Deutschlands recht eigentlich schon durch die Resultate von 1914-18/19 präjudiziert. Und ausgerechnet nur durch den deutschen Hitler-Amoklauf, dem großddeutsch-europäischen Albtraum, schien dieser Bann einst gebrochen, gar umgekehrt. Aber erst nach der finalen Niederringung deutscher Hitler-Politik und Kriegswirtschaft war derlei „Einhegung“ der Deutschen dann erstmals auf wirklich historische, völkerrechtliche, moralische oder auch nur praktische Weise „gerechtfertigt“. Ganz anders eben als nach „14/18“.

Wohl nur die in West (wie Ost) gefühlte Gefahr einer deutschen Überwindung von deren spätestens seit 1914-18-45 mehr und mehr erworbenen Hilfs-, Geist- und Wehrlosigkeit im „Welt“- und „Europa“-Zusammenhang, konnte (oder könnte) gewissen EU-Staaten das Kalkül nahelegen es den Deutschen in punkto Souveränitätsbeschränkung dann doch lieber gleichtun zu wollen. Die Gefahr etwaiger deutscher Alleingänge oder eine deutsche Adaption etwa eines englischen, französischen, spanischen (usw.) oder gar eines US-amerikanischen oder russischen, vollsouveränen Vorgehens bei gewissen Angelegenheiten ist eben deutlich reduziert. Letzteres ist aber vielleicht mehr noch aus innen- und geistespolitischen deutschen Defiziten heraus der Fall denn durch irgendeine Kraft von Verträgen. (Nachtrag 2017: Und selbstschädigende Großaktionen wie €-Einführung, EZB-Ausstattung, militärische Impotenz uns sogenannte „Energiewenden“ und „Grenzöffnungen“ können dem Ausland entweder nur sehr recht oder egal sein; sie bringen aber angelegentlich eben auch Bumerang-Effekte mit sich, die dan alle negativ betreffen. Genau hier läge der deutsche Hebel zu qualitativen Veränderung und Normalisierungen, stünden dem nicht vor allem deutsche „Pawlowsche“ Reflexe und handfeste Pathologien entgegen!)

Ansonsten gilt bis auf weiteres, daß die erwartete supranationale, konsensualistische „Effizienzsteigerung Europas“ im Rahmen von EU-„Verfassungen“ oder „Reformverträgen“ eben vielen Nicht-Deutschen eindeutig kein attraktiver Ersatz für traditionsbewußtes Dominanzgebaren und die Vorteilsheischung gegenüber den geschichtlichen Loosern vom Rhein, von Oder und Neiße et cetera zu sein scheint. Aber man möchte gerade als deutscher Steuerzahler auch einfach einmal ganz klar formuliert sehen, daß allen beteiligten Kooperations- und/oder Konkurrenznationen wirklich keinerlei materielle und geistige Vormundschaft über das heutige Deutschland mehr zustehen sollte. Eine Beschränkung der Sichtweisen, eine unausgesprochene Rechtfertigung gewisser Unausgewogenheiten mit Blick insbesondere auf das Deutschland von 1933-45 ist zunehmend unerträglich. Eine bessere Berücksichtigung deutscher beziehungsweise gesamteuropäischer Interessen nur auf dem Wege der fortwährenden Beschwörung des Wünschenswerten in der Politik stets nur verbal, verhalten, unvollständig einzufordern, ist eindeutig zu wenig. Zu wenig, um die innereuropäischen Schieflagen zuungunsten „Deutschlands“ oder „Europas“ tatsächlich zu beheben. Gerade neuer deutscher Wille und neue Befähigung zum Diskurs, zur Kurskorrektur und zum Konflikt im Geschäft deutscher Europa- und Weltpolitik kann Deutschland, Europa und die Welt bei der Überwindung nationaler Chauvinismen wirklich voranbringen. All und genau dies scheint mir im wesentlichen die äußerst praxisorientierte und dialektische Botschaft einer rückhaltlosen Analyse deutscher und europäischer Dinge – vor und nach deutsch-europäischen „Hitlerzeit“ – zu sein.

Zwischen dem relativ großen Deutschland und etlichen kleineren EU-Mitgliedsländern ergeben sich dabei in großen Teilen aber oft grundsätzlich weit identischere Interessenlagen als mit beiden EU-(Atom)-„Welt-/Großmächten“ und deren traditionellen Satelliten.[1] Dies wurde inzwischen gelegentlich schon hier und da einmal zumindest teilweise formuliert – und natürlich viel, viel diplomatischer oder zaghafter als im vorliegenden Text. Beispielsweise etwa auch von so manchen weitgehend klarsichtigen, hochwissenschaftlichen oder publizistischen Beobachtern der deutschen, europäischen und weltpolitischen Dinge (etwa von Arnulf Baring, Christoph Bertram, Christian Hacke, Michael Stürmer und etlichen anderen). Gerade auch manch aufgeklärte amerikanische oder andere fremde Stimme flüstert den Deutschen sogar hier und da wie einem kranken Gaule zu, bitte etwas mehr Zugkraft in eigener – wie in westlicher Sache – zu entwickeln, dies auch zu können. Manche dieser Stimmen (beispielsweise der US-Ökonom Adam S. Posen) rät letztlich gar zur deutlich wahrnehmbaren, substantiellen Umschichtung deutscher Mittel und Energien: weg von der althergebrachten (west- und südeuropalastigen) EU-„Subventionitis“ und hin zu mehr (neuer) „Weltpolitik“ sozusagen. Auch der Münchner Ökonom Werner Sinn hinterfragt im Grunde quasi ganz, ganz vorsichtig – und ebenso fachwissenschaftlich wie nationalpädagogisch – die Zweckmäßigkeit gerade der deutschen Nettotransfers nach Brüssel.

Letzteres ist allerdings ein Begriff der sich eigentlich schon sehr bald nach 1914/18 in Deutschland im breiten Publikum (sowie den verbliebenen, teils fortgesetzt irgendwie ungut mutierten „deutschen Eliten“) einseitig negativ belegt ist. Und nach dem deutschen Amoklauf von 1933-45 löste sich irgendwie so gut wie alles in der besagten „europäischen Integration“, will sagen: in Brüsseler, Straßburger und Luxemburger „Bonn/Berlin“-Ersatzobrigkeiten für die seit 1918/19 einer echten Souveränität mehr und mehr entwöhnten, zu dieser vielleicht auch mehr und mehr unwilligen und schließlich mittlerweile weitgehend auch dazu unfähigen Deutschen auf.

Hier bedarf es wohl ausgiebiger und regelrechter „Nationaltherapien“ (Weyel), um sich endlich wieder authentisch auf einer eigenen, nicht-pathologischen Lernkurve bewegen zu können. Anders wird man der steten Fortsetzung einer Art kollektiven „Stockholm-Syndroms“ beziehungsweise der daraus resultierenden individuell-kollektiven Persönlichkeits- und Charakterdeformationen: nämlich sich anderer Leute Interessen stets zu mindestens 100 Prozent zu eigen machen zu wollen/müssen, kaum je entkommen können. Die souveräne und auch internationale Fortsetzung einer halbwegs autonomen, gleichberechtigten deutschen nationalstaatlichen Lernkurve hatte man ja vormals weder dem Kaiserreich noch der nachfolgenden deutschen Republik gönnen wollen. Und die Nazis hatten sich‘s dann einfach rausgenommen, auf pathologisch getrimmt und mit ihrem historisch dann erstmaligen deutschen Unrechtsstaat und seinen Aktionen einen Großteil der nach 1914/18 verbliebenen, integeren und teils eher jungen gesamtgesellschaftlichen Nationalkultur selbige vernichtet oder vollends diskreditiert. Diskreditiert waren nach 1945 zunächst auch alle noch so berechtigten deutschen Revisions- und Restitutionsansprüche.

Doch direkt zurück zur Jetztzeit, wo sich im Inneren wie Äußeren Deutschlands und der Welt so manches, keinesfalls aber alles, geändert hat. In punkto substantieller EU-Reform ist trotz „Lissabon“ (2009) recht wenig geschehen. Nicht unwillkommen dürften gewissen elitären französischen Interessengruppen die medial vielzitierte Angst des französischen Durchschnittsbürgers und Wählers vor „Brüssel“ sein. Auch die unterstellte „Denkzettel“-Absicht derartiger Volksvoten (2005) an die jeweils eigene Regierung erklärt vielleicht nur einen (geringeren) Teil der Vorgänge und ist so manchen Regierungen – entgegen anderslautender Fenster- und Sonntagsreden – eher ein willkommenes Zusatzinstrument und Votum für eine rein national orientierte Interessenverfolgung. Die Angst vorm „polnischen Klempner, Sozialabbau und McDonalds“ ist dabei höchst nützlich. Vielleicht ist das Ganze einem nicht unbedingt kleinen Kern von eben nicht deutschen Politikern, Wirtschaftseliten und Völkern einfach hochwillkommen und nützlich bei der Ausführung einer äußerst wichtigen impliziten EU-Gemeinschaftsaufgabe: nämlich der Verhinderung wirklicher deutscher Gleichberechtigung oder gar natürlichen Dominanz, wie es den unterschiedlichen materiellen Datenkränzen (Bevölkerung/Sozialprodukt usw.) im Vergleich Frankreich-Deutschland, Großbritannien-Deutschland et cetera durchaus entsprechen würde. (Und zwar seit etwa 1890!)

Ob man aber gerade deutscherseits konfliktbereit – und möglichst langfristig und gut koordiniert mit anderen Interessenten – endlich einmal etwas wirklich Eigenes, den deutschen und mitteleuropäischen Interessenlagen viel besser als die bisherige EU-Ordnung Gerechtwerdendes zu generieren wissen wird, scheint fraglicher denn je. In den Mittelpunkt rückt dabei unter anderem: Deutschlands Verhältnis allein zu Polen, Baltikum, Balkan und Nahost. Dies ist traditionell und perspektivisch außenpolitisch weit relevanter als das Verhältnis des deutschen Hauptsponsors zu den traditionellen süd-/südwesteuropäischen Kostgängern der EU-„Subventionitis“ sowie etwa den englischen Ex-Kolonien à la Zypern oder Malta. Entsprechend ausgestaltet dienten derlei neue Sonderverhältnisse dem Weltfrieden und Europas Regeneration vielleicht weitaus mehr als irgendeine althergebrachte west- oder südeuropäische oder eben föderal-ostdeutsche Hinterlandpolitik. Das irgendwelche Südeuropäer, mit Ausnahme der Spanier vielleicht, weder im Rahmen der EU und letztlich eklatanter noch: der NATO, keinen effektiven Grenzschutz darstellen wollen oder können, bleibt dabei völlig konsequenzlos. Und noch jegliche EU-„Denkpause“ blieb ungenutzt.

Sie wurde etwa einst mit Blick auf die französischen und niederländischen EU-Referenden von 2005 verkündet. Und mit deutschen Glotzaugen harrte man offenbar irgendwie vor allem der Offensive ausgerechnet einer der deutschen nachfolgenden französischen 6-Monats-Ratspräsidentschaft in 2007. Vom hiesigen vaterländischen Unverstand (insbesondere der sogenannten „C“-Parteien in dieser Sache) wird dabei eine sozusagen unisono mit französischer Oberstimme kolportierte „Erweiterungsmüdigkeit“ breitgetreten, sowie gerade der längst überfällige deutsch-mitteleuropäische Großeinsatz gegen französische und britische Sonderinteressen gerne ein ums andere mal vertagt. Aber man wäre bei beherzten Schritten in dieser Richtung freilich wohl weder ohne Verbündete – noch ohne weitere Gegner. Soviel jedenfalls ist klar. Statt dessen ging (erwartungsgemäß) auch aus der deutschen EU-Ratspräsidentschaft (Januar-Juni 2007) ein in zunehmender Verwässerung begriffener „Reformvertrag“ (wohl mit Hilfestellung eines französischen Souffleurs) hervor.

Der gesamte Hype deutscher EU-Medien- und Regierungsberichterstattung (vor, in, seit 2005 oder 2009)  ähnelt anderen historischen Durchbruchsphantasien; fast so wie damals als es noch ganz, ganz konkret etwa ums Fort Vaux oder Douaumont ging. Schon damals war damit verhältnismäßig wenig gewonnen! Das recht eigentliche und schon quasi-konspirative parteipolitische und regierungsmäßige Nichtangehen alter Schieflagen der EU-Konstruktion ist das wohl substantielleste EU-Problem aller Nettozahler – und insbesondere Deutschlands. Ziemlich ungeachtet aller Abstimmungsmodi oder Beitrittsfragen übrigens. Dankbar ist man offenbar für jede diesbezügliche Ablenkung des meist eher naiven und höchst vergeßlichen Massenpublikums. (…)

„Das deutsche Volk ist gottlob nicht mehr das von 1933-45; es ist leider aber auch nicht mehr das von 1914/18 oder der Jahrzehnte davor!“ (Weyel, 2006)

 

[1] An dieser Stelle soll keine spitzfindige Definition und Differenzierung von „Welt-, Groß-, Atom-“ bzw. „Regional-/Mittelmacht“ erfolgen. Es wird gemäß dem kulturtragenden Selbstverständnis „Großbritanniens“ und „Frankreichs“ im folgenden einfach der Begriff „Weltmacht“ verwendet werden.